Hallo Bernhard,
na schön, wegen Deines Drängelns:
Ich beziehe mich bei meiner Argumentation im wesentlichen auf die
Gedankengänge des untentehenden Artikels.
Quelle: http://www.solidaritaet.com/neuesol/2000/50/kreisau.htm
Ich hoffe sehr, Du versuchst ihn zu verstehen und zerdröselst ihn
nicht wieder.
Gruß,
Pingo
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Christentum, Staat und Wirtschaft
Die Aktualität grundsätzlicher Überlegungen des deutschen Widerstandes
Von Michael Liebig
In einem programmatischen Papier vom 27. Mai 1942 erklärten die auf
dem Gut Kreisau in Schlesien versammelten Männer und Frauen des
deutschen Widerstandes gegen das Naziregime: "Wir sehen im Christentum
wertvollste Kräfte für die religiös-sittliche Erneuerung des Volkes,
für die Überwindung von Haß und Lüge, für den Neuaufbau des
Abendlandes, für das friedliche Zusammenleben der Völker....Das
Naturrecht ist das von Gott in die Schöpfung gelegte sittliche
Ordnungsprinzip. Kein unabdingbarer Satz des Naturrechts kann durch
die staatliche Gesetzgebungsmacht beseitigt werden. Das gilt für die
Unantastbarkeit des Lebens - Verwirkung, Notwehr und Nothilfe
ausgenommen - , der Ehre, der Freiheit, der Wahrheit ebenso wie des
Eigentums. Die verpflichtende Kraft der Gesetze des Staates rührt aus
ihrer Übereinstimmung mit dem Naturrecht."
Es ist von außerordentlicher Bedeutung, daß der deutsche Widerstand
gegen Hitler im Christentum das Hauptfundament seines politischen
Wirkens sah. Dies ist umso bemerkenswerter als die führenden Männer
und Frauen des Widerstandes in ihrer großen Mehrheit keineswegs im
konventionellen Sinne "gewachsene" Christen waren, deren Lebenslauf
fest und bruchlos im Glauben und Wirken der christlichen Kirchen
eingebettet war. Charakteristisch scheint mir eine Äußerung von Adam
von Trott zu Solz zu sein, der schrieb, er sei zur Überzeugung
gelangt, daß "Errettung im Grunde im Gehorsam gegenüber einer höheren
Ordnung liegt, die sich uns in unseren besten Augenblicken durch unser
Gewissen, unsere Liebe und unseren Ehrgeiz enthüllt. Ich glaube, die
christliche Idee, daß hinter einer solchen Offenbarung die Person
Gottes steht, hat immer einen tiefen Einfluß auf meinen Gedankengang
gehabt. Obgleich ich nicht beanspruchen kann, ein Gläubiger im alten
christlichen Sinne zu sein."
Wie man gerade am Kreisauer Kreis sehen kann, hatten die Widerständler
sehr verschiedenartige weltanschauliche Hintergründe. Zwar spielten
protestantische Geistliche wie Dietrich Bonhoeffer oder katholische
Priester wie die Jesuitenpatres Alfred Delp, Lothar König und Augustin
Rönsch im Widerstand eine herausragende Rolle. Aber zum Kreisauer
Kreis gehörten auch Vertreter der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften
oder des "liberalen" Bildungsbürgertums und des Gutsbesitzeradels. Man
hatte in diesen Kreisen dem Christentum eher distanziert, oft sogar
ablehnend, gegenüberstanden. Angesichts der Greuel imperialer,
totalitärer Machtpolitik im Zeitalter der "Moderne", machte sich ein
tiefgehendes weltanschauliches Umdenken breit. Man spürte zutiefst,
daß die ideologischen Schlachtrufe der "Moderne" - "Gott ist tot" und
"die aufgeklärte Welt braucht das Christentum nicht mehr" - zentrale
Ausgangspunkte der unsäglichen politischen Katastrophen des 20.
Jahrhunderts waren. Diese geistig-politische Hinwendung der
Widerständler zum Christentum und zum christlichen Naturrecht wirkte
tiefgehend in ganz Kontinentaleuropa - keineswegs nur in Deutschland -
bis hin zum "gegenkulturellen Wertewandel" der 60er Jahre.
Christentum ist "verantwortliche Tat"
In seinen Gefängnisschriften hat Dietrich Bonhoeffer auf das
Prägnanteste klargestellt, daß das Verständnis des Christentums im
Widerstand auf "Zivilcourage", auf die "verantwortliche Tat" in
"gehorsamer" und "alleiniger Bindung an Gott" abzielt. "Das Wort
Gottes ist so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und
erneuert." "Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für
diese Welt da sein". "Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der
Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer
noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische
Leben wie Christus (,Mein Gott, warum hast Du mich verlassen') ganz
auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und
Auferstandene mit ihm".
Bonhoeffer hatte mit einzigartiger Klarheit und Schärfe erkannt, daß
dem Christentum nicht nur durch die "Gottlosigkeit" der Moderne,
sondern gleichermaßen durch die moderne "religiöse Innerlichkeit" eine
neue tödliche Gefahr drohte. Das Christentum zur "religiösen
Innerlichkeit" deformiert, betrachtete Bonhoeffer sogar als noch
größere Gefahr als den Atheismus oder die neuheidnische Ideologie der
Nazis. Diese moderne "religiöse Innerlichkeit" bedeutet im
praktischen, politischen Leben schlicht Passivität, Opportunismus und
Feigheit. Bonhoeffer identifizierte das ideologische Umfeld und die
geistigen Wirkungen der "Existenzphilosophie" Martin Heideggers als
die zentrale Ursachen der neuen "religiösen" Zersetzung und Zerstörung
des Christentums. "Die Verdrängung Gottes aus der Welt, aus der
Öffentlichkeit der menschlichen Existenz führte zu dem Versuch, ihn
[Gott] wenigstens in dem Bereich des ,Persönlichen', ,Innerlichen',
,Privaten' noch festzuhalten." Da der Mensch aber "ebensosehr von
,außen' nach ,innen' wie von ,innen' nach ,außen' lebt, ist die
Meinung, ihn in seinen intimsten seelischen Hintergründen erst in
seinem Wesen zu verstehen, ganz abwegig. Ich will also darauf hinaus,
daß man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle
hineinschmuggelt, sondern daß man die Mündigkeit der Welt und des
Menschen einfach anerkennt, daß man dem Menschen nicht in seiner
Weltlichkeit ,madig macht', sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit
Gott konfrontiert, daß man auf alle pfäffischen Kniffe verzichtet und
nicht in Psychotherapie und Existenzphilosophie einen Wegbereiter
Gottes sieht. Dem Wort Gottes ist die Zudringlichkeit all dieser
Methoden viel zu unaristokratisch, um sich mit ihnen zu verbünden."
Der Mensch der Moderne "muß also wirklich in einer gottlosen Welt
leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie
religiös zu verdecken, zu verklären; er muß ,weltlich' leben und nimmt
eben darin an den Leiden Gottes teil; er darf ,weltlich' leben, d.h.
er ist befreit von allen falschen religiösen Bindungen und Hemmungen."
Auf dieses Verständnis des Christentums aufbauend, ergab sich für
Bonhoeffer wie für den Kreisauer Kreis die eindeutige und fundamentale
Schlußfolgerung, daß nur das Christentum, nicht säkulare "Ethik" oder
gar "Wertepluralismus" die Basis für die politisch "verantwortliche
Tat" bilden konnten. Bonhoeffer schreibt, "daß wir die grauenhaftesten
Dinge des Krieges jetzt so intensiv erleben müssen, ist, wenn wir sie
überleben, für später wohl die notwendige Erfahrungsgrundlage dafür,
daß nur auf dem Boden des Christentums ein Wiederaufbau des Lebens der
Völker im Innern und Äußern möglich ist." "Ich glaube, daß Gott kein
zeitloses Fatum ist, sondern er auf aufrichtige Gebete und
verantwortliche Taten wartet und antwortet". Und in den Dokumenten des
Kreisauer Kreises heißt es: "Überhaupt kann echte Erneuerung... nur
gelingen, wenn die Religion, diese Zentralkraft des ganzen
menschlichen Lebens, in den Herzen der Menschen lebendig ist. Nur wenn
im Namen Gottes die Geister gerufen, die Gewissen erweckt und gebildet
und die Menschen verpflichtet werden, werden die Völker den Weg
zurückfinden zu den naturgegebenen echten Ordnungen, die Ordnungen
Gottes des Herrn sind, und sich entschließen, alles an die
Verwirklichung dieser Ordnungen zu setzen, weil dieser Einsatz echter
Gottesdienst ist."
Das christliche Naturrecht
Der deutsche Widerstand forderte ausdrücklich, daß Staat und
Gesellschaft vom christlichen Naturrecht geprägt und gestaltet sein
müßten. Man dachte also ausdrücklich nicht "weltanschaulich
indifferent", vielmehr wurde das christliche Naturrecht "absolutes
Recht" aufgefaßt. Das christliche Naturrecht beinhalte "die göttliche
Rechtsordnung", die die "göttlichen Herrenrechte, die jeder Deutung
und jeder Beugung durch die Kreatur entzogen sind" ebenso wie die
"Menschenrechte, deren Beschneidung oder Vergewaltigung den Menschen
zerstört und jedem gemeinschaftlichen Leben Sinn und Berechtigung
nimmt". Die "unverlierbaren Menschenrechte" sind "der gottgeschaffenen
Natur des Menschen mitgegeben", dazu gehört "vor allem die recht
verstandene Freiheit des Geistes, des Gewissens und des Glaubens." Die
Katastrophen des abendländischen Europas seien das Ergebnis des
"Abfalls" von christlichen "Menschenbild". Der "abendländische Mensch
ist nicht mehr gewohnt, freie Gewissensentscheidungen in Bindung an
das Naturgesetz und an das natürliche Sittengesetz zu fällen." Das
zentrale Problem im politischen Leben Europas sei es, daß den Menschen
"das Christliche als Begriff und Seinsgrundlage abhanden gekommen"
sei.
Dietrich Bonhoeffer hat die zentrale Bedeutung des christlichen
Naturrechtes in Hinblick auf seine "Wirksamkeit in der Geschichte" auf
eine faszinierende Art dargelegt. "Es gehört zu den erstaunlichsten,
aber zugleich unwiderlegbaren Erfahrungen, daß das Böse sich - oft in
einer überraschend kurzen Frist - als dumm und unzweckmäßig erweist...
Im Zusammenleben der Menschen (gibt es) Gesetze, die stärker sind als
alles, was sich über sie erheben zu können glaubt, und daß es daher
nicht nur unrecht, sondern unklug ist, diese Gesetze zu mißachten...
Es ist in der Welt so eingerichtet, daß die grundsätzliche Achtung der
letzten Gesetze und Rechte des Lebens zugleich der Selbsterhaltung am
dienlichsten sind, und daß diese Gesetze sich nur eine ganz kurze,
einmalige, im Einzelfall notwendige Überschreitung gefallen lassen,
während sie den, der aus der Not eine Tugend macht und also neben
ihnen ein eigenes Gesetz aufrichtet, früher oder später - aber mit
unwiderstehlicher Gewalt - erschlagen".
Mit der zentralen Stellung, die der deutsche Widerstand dem
christlichen Naturrecht zuwies, unterschied er sich grundsätzlich vom
pragmatisch-liberalistischen "Anti-Totalitarismus" eines Friedrich von
Hayek. In seinem 1944 veröffentlichten politisch-programmatischen Werk
"Der Weg in die Knechtschaft" behauptet von Hayek kategorisch, daß es
keine wißbare Wahrheit, keine absoluten moralischen Werte und keine
unverrückbaren sittlichen Rechte und Pflichten gebe. Apriori läßt von
Hayek nur den "Markt" gelten, auf dem sich - nach Maßgabe von Versuch
und Irrtum - "richtige" Informationen und daraus abgeleitetes Handeln
herausbildeten. Aus dem Erfahrungsprozeß der menschlichen Geschichte
ergebe sich die pragmatische Schlußfolgerung, daß die "liberale
Gesellschaft" ohne verbindliche Zielsetzungen die politische und
wirtschaftliche Organisationsform sei, die angeblich den höchsten
"allgemeinen Nutzen" aufweise. In der "liberalen Gesellschaft"
bilanzierten sich - erfahrungsgemäß - die vielfältigsten und
gegensätzlichen sittlichen Werte wechselseitig aus, was in Anlehnung
an Adam Smith' mystische "unsichtbare Hand" ein "spontanes
Ordnungsystem" hervorbringe. Der Staat wird prinzipiell als
Zwangsanstalt definiert, dessen - minimalistische - Rolle auf die
Gewährleistung von Privateigentum und Vertragstreue reduziert werden
muß. Eine zentrale Behauptung von Hayeks ist, daß es zwar für soziale
Kleingruppen (Familie, Freundeskreis) gewisse "solidarische" Werte
gebe, aber für die Gesellschaft insgesamt gebe es kein bindendes
Sittengesetz bzw. dürfe es keines geben. "Freiheit" existiert nur als
uneingeschränkt marktkonformes Handeln.
Laut von Hayek führe das Postulat allgemein verpflichtender
moralischer Werte für die Gesellschaft zwangsläufig in die "totalitäre
Knechtschaft". Dabei macht von Hayek zwischen der mit den Mitteln des
polizeistaatlichen Terrors erzwungene "Wahrheitsanmaßung" des
Faschismus und Kommunismus und dem sittlich begründeten
Wahrheitsanspruch des Christentums, des demokratischen Sozialismus und
sogar des "Ordo-Liberalismus" keinen grundsätzlichen Unterschied. Die
"liberale Gesellschaft" ertrage nur den indifferent-pragmatischen
"Wertepluralismus". Es versteht sich nun von selbst, daß sich
moralische Indifferenz und pragmatische Erwägungen einerseits und die
existentielle - d.h. die eigene Existenz aufs Spiel setzende -
Entscheidung zum Widerstand andererseits kategorisch ausschließen.
Im scharfen Gegensatz dazu wird in den Dokumenten des Kreisauer
Kreises ausdrücklich festgehalten, man lehne die "verbrauchten Formen
des individualistischen Liberalismus" ab, so wie man auch den
"kollektivistischen Sozialismus" ablehne. In den Kreisauer Dokumenten
heißt es: "Eine von der Religion losgelöste Ethik reicht ebenso wenig
aus wie der reine Staatsgedanke oder ein säkularisiertes
Weltanschauungssystem, da der sich hieraus notwendigerweise ergebende
Subjektivismus und Relativismus eine solche allgemeine Bindung [in
Staat und Gesellschaft] unmöglich macht... Denn nur aus einer hinter
der [Staats-]Verfassung stehenden einheitlichen geistigen Haltung läßt
sich eine innerlich wirklich verpflichtende sittliche Bindung für
Führung und Regierte gewinnen... Nach seiner geschichtlichen
Gewordenheit kommt für Deutschland nur eine Verfassung in Frage, die
die tragenden Kräfte des Christentums bejaht und als solche wieder zur
Geltung bringt."
Es mag für den heutigen Leser vielleicht zunächst verwirrend
erscheinen, wie die überragende Stellung des christlichen Naturrechts
in Staat und Gesellschaft mit der individuellen Freiheit
"zusammenpaßt"? Der Kreisauer Kreis bekannte sich gleichzeitig und
gleichermaßen ganz ausdrücklich zum Christentum als verbindliche
"Seinsgrundlage" und zur "rechtverstandenen Freiheit des Geistes, des
Gewissens und des Glaubens". Für den deutschen Widerstand war die
Vorstellung eines "fundamentalistischen" Christentums ein Widerspruch
in sich. Das Christentum wurde - historisch und philosophisch - als
die Basis verstanden, aus der heraus sich die geistige und politische
Freiheit überhaupt erst entwickeln konnte. Erst ein christlich
geprägtes Gemeinwesen macht individuelle Freiheit möglich, denn der
Kern des Christentums besteht darin, in jedem Menschen das "Abbild
Gottes" zu sehen und seine "Willensfreiheit" zu akzeptieren. Jedes
Zurückgehen hinter diesen zutiefst christlichen Begriff der
Menschenwürde bedeutet jedoch den "Rückfall in die Barbarei" was immer
ihre moderne Gewandung sein möge.
In den Dokumenten des Kreisauer Kreises steht in diesem Zusammenhang:
"Ein Dualismus ist im Wesen der menschlichen Gemeinschaft begründet,
weil jede menschliche Gemeinschaft Ziele hat, die über den Menschen
hinausgehen, und weil jede menschliche Gemeinschaft Macht braucht und
damit der Versuchung unterliegt, diese Macht im eigenen Interesse zu
mißbrauchen. Übernimmt der Staat daher auch die Aufgabe der geistigen
Führung, so kommt es zur Selbstvergottung; übernimmt die geistig
führende Gruppe auch die staatliche Macht, direkt oder indirekt, so
kommt es zum Klerikalismus... Jede Privilegierung der Christenheit
würde die mühsam errungene Glaubwürdigkeit der Kirchen bei den
[weithin entchristlichten] Massen und damit die Fähigkeit zur inneren
Mission wieder gefährden. Es muß alles vermieden werden, was nach
Staatskirche und Gewissenszwang aussehen kann, da das deutsche Volk
überempfindlich in diesem Punkt ist. ... Das bedeutet keine weiche
Neutralität in weltanschaulichen Dingen. Der Staat muß bewußt den
Einfluß falscher Lehren auf Jugenderziehung und Volksbildung
verhindern. Einen sehr einfachen Maßstab dafür gibt die Überlegung:
Jede Lehre, die zu Haß und Verachtung anderer Menschen auffordert, ist
sachlich unwahr und deswegen ethisch und politisch
abzulehnen....Völlige finanzielle Trennung von Staat und Kirche ist
Voraussetzung einer gesunden Neuordnung."
"Die Aufgaben des Staates und der Kirche umgreifen so
verschiedenartige Bereiche des menschlichen Lebens, daß sie nicht
miteinander vermischt werden können. Deshalb müssen ihre Ordnungen
eigenständig, d.h. von ihren besonderen Vorausetzungen her entwickelt
werden. Aber es darf nicht vergessen werden, daß Gott Herr aller
Ordnungen und oberste Ordnung ist... Das Wesen des Staates ist das
organsierende Handeln. Seine Verantwortung ist begrenzt durch seine
Verantwortung vor Gott und dem Weltganzen. Die Kirche ist die
Wächterin über die inneren und geistigen Bereiche des Menschen, die im
Transzendentalen wurzeln und nicht organisiert werden, sondern nur von
innen wachsen können. Durch die Verkündigung soll das Licht des Wortes
Gottes auf alle Lebensbereiche fallen und sie durchdringen.
Das Staatsziel
Gerade heute ist es sehr wichtig zu erkennen, daß im Kreisauer Kreis
auf der Basis des christlichen Naturrechtes nicht nur der totalitäre
Willkürstaat nationalsozialistischer oder kommunistischer Provinienz
zurückgewiesen wurde. So klar gesagt wurde, daß die Grenzen des
Staates durch das Naturrecht und die Menschenrechte gezogen sind, so
unmißverständlich wurde auch erklärt, daß der Staat nicht zum
Spielball privater wirtschaftlicher Interessen, zum "liberalen
Nachtwächterstaat" verkommen darf. Heute würde man vom "schlanken
Dienstleistungsstaat" sprechen.
Der Staat darf deshalb "weder Selbstzweck noch Mittel" sein, vielmehr
muß "organisierendes Handeln" den Staat auszeichnen. "Zweck des
Staates ist und muß bleiben die bewahrende, beschützende, helfende und
schöpferisch entwickelnde Förderung des Bonum Commune... Die
Amtsträger des Staates müssen sich dem wahren Gemeinwohl und nicht dem
Nutzen einer Klasse oder Partei verpflichtet wissen." Dazu "bedarf es
einer echten Autorität, die führen kann und will."
Wenn der Kreisauer Kreis nach innen und nach außen das Gemeinwohl als
das zentrale Staatsziel definiert, so hütet man sich doch, es bei
einem - damals wie heute - etwas abgegriffenen allgemeinen Postulat zu
belassen. Die unbestimmte Forderung nach dem Gemeinwohl wäre formal
und unlebendig und würde von der Bevölkerung auch so wahrgenommen.
Angesichts von Klassen- und Rassenhaß, Chauvinismus, von
wirtschaftlichem Egoismus und Geldgier bleibt der Appell an des
Gemeinwohl oberflächlich. Man erkannte, daß die unabdingbare
Voraussetzung staatspolitischen Handelns im Sinne des Gemeinwohls die
"innere Entwicklung einer metaphysischen und moralischen Besinnung" in
der ganzen Bevölkerung sein müsse. Besonders aber der Staatsmann dürfe
"nicht am religiösen Raum uninteressiert sein", denn nur von daher
lasse sich die notwendige "moralische Besinnung" erreichen. Es ist
aber für uns heute geradezu revolutionär und zutiefst verblüffend,
wenn in den Kreisauer Dokumenten die christliche Liebe (caritas) als
Gestaltungsprinzip der Staatspolitik definiert wird: "Die Liebe ist
keine private Angelegenheit. Sie ist das Staatsgrundgesetz von morgen;
sie macht uns verantwortlich für jeden anderen und ist die Mutter der
Gerechtigkeit. Wir sind es nicht mehr gewöhnt, die Liebe von hierher
zu erwägen. Das kann nicht hindern, sie als das entscheidende
Ordnungspotential der Zukunft zu erkennen." Es müsse die Aufgabe der
Staatsführung sein, "unter Beweis zu stellen, daß die Liebe (die
Hingabe an die Gemeinschaft in jeder Form) ein ordnendes
Staatsgrundgesetz" und keineswegs nur ein "Satz des Gefühls" sei.
Für eine Staatspolitik auf Basis der christlichen caritas mit der
Zielsetzung des bonum commune komme der Erziehungs- und
Bildungspolitik eine herausragende Bedeutung zu. "Bei der Ordnung des
für das Leben des Nation so wichtigen Bildungswesens geht der Staat
davon aus, daß Bildungsziel die Herausforderung der vier natürlichen
Kardinalstugenden ist, verbunden mit einer umfassenden
geisteswissenschaftlichen Durchformung; daß aber alle Bildung in der
Hingabe an die Gemeinschaft, an die anderen gipfelt; daß deshalb der
Staat neben einer Wissensvermittlung (einer Wissensbildung) eine
Lebensbildung zu fördern hat", heißt es in den Dokumenten.
Das Gemeinwohl ist aber keineswegs auf die Gestaltung der
Staatspolitik im Inneren beschränkt. Die Außenpolitik muß sich
gleichermaßen von dem Ziel des Gemeinwohls leiten lassen, denn der
Staat hat gegenüber dem "Weltganzen" eine gleichermaßen naturrechtlich
begründete Verantwortung. "Jeder Staat muß mitarbeiten an einer
gerechten Ordnung der Welt und hierfür einen besonderen Beitrag
leisten." Das außenpolitischen Schwergewicht des deutschen
Widerstandes lag naturgemäß in Europa. Vor allem anderen ging es um
die Schaffung einer stabilen europäischen Friedensordnung. "Aus
vielfältigen Gründen muß im europäischen Raum das allgemeine
zwischenstaatliche Ziel die organisatorische europäische Konkordanz
sein. Nur so wird sich Europa gegenüber den anderen Kontinenten und
Kontinentalmächten nachhaltig zu behaupten vermögen." Deutschland
werde, "wenn es in seinem Aufbau den öden Zentralismus vermeidet,
diese europäische Konkordanz weder stören noch erdrücken. Das Reich
wird aber bei seinem Aufbau stark genug sein, um den Gedanken der
europäischen Konkordanz unablässig zu fördern."
Die "Kreisauer" wußten genau, daß zur Erreichung des Ziels einer
"europäischen Konkordanz" das Problem gelöst werden mußte, wie
"Deutschland an den Verantwortungen und Möglichkeiten Europas voll
beteiligt werden" kann, ohne daß "das natürliche Übergewicht
Deutschlands" als Bedrohung seiner Nachbarländer empfunden werden
würde. Dabei sei "keine Vertragskonstruktion" vorstellbar, die
Deutschlands Nachbarstaaten "vor jeder möglichen Bedrohung schützt und
gleichzeitig eine erträgliche Sicherung deutscher Lebensinteressen
gewährleistet." Man lehnte aber auch klar einen Gleichgewichtsfrieden"
als dauerhafte Grundlage einer "neuen europäischen Gesamtordnung" ab,
da so keine "prinzipielle Lösung" von Konflikten erreicht werden
könne. Die "europäische Konkordanz" müsse ein "gleichberechtigter
Zusammenschluß aller europäischen Staaten unter Preisgabe bestimmter,
festumrissener Souveränitätsrechte auf militärischem, rechtlichem,
außenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet" sein. Für die zu
schaffende europäische Konkordanz gelte aber, wie "für jede Art von
politischer Gestaltung", daß "die hinter ihr stehende Geisteshaltung
bestimmend" sei. "Eine neue europäische Ordnung wird nur dann eine
wirkliche Grundlage für eine Zusammenarbeit der europäischen Völker
sein können, wenn sie sich auf einem gemeinsamen europäischen Ethos,
einer Gemeinsamkeit sittlicher Überzeugungen aufbaut. Darum ist die
innere Überwindung der jetzt herrschenden säkularisierten
Lebensauffassung durch eine christliche Haltung erforderlich.
Christentum und Wirtschaft
Aus der Bestimmung des Charakters und des Zwecks des Staates auf
Grundlage des christlichen Naturrechts ergibt sich zwangsläufig auch
das Verständnis des Wirtschaftlebens. In den Dokumenten des Kreisauer
Kreises wird Wirtschaftsfragen breiter Raum gewidmet. Es wird "eine
Gesamtschau der Wirtschaft" gefordert. Die richtige Bestimmung der
Wirtschaftspolitik dürfe "weder im rein theologisch-philosophischen
noch im sozialpolitisch-wirtschaftlichen Bereich verharren, sondern
müsse die lebendige Mitte zwischen beiden wahrnehmen." Der Staat ist
zu "organisierendem Handeln" auch und gerade in der Wirtschaft
verpflichtet, denn es dürfe nicht zugelassen werden, "daß die
Wirtschaft zum Selbstzweck wird. Sie ist ein Mittel zur Entfaltung und
Sinngebung des Lebens, nicht sein Zweck." Die Wirtschaft habe die
Aufgabe "der Wohlfahrt des Einzelnen und der Gemeinschaft zu dienen".
Sie habe "eine doppeltes Gesicht: sie ist die Quelle der materiellen
Güter des Lebens und Bestandteil der Lebensordnung; sie bestimmt durch
die Funktion, die dem einzelnen im Wirtschaftsvorgang zukommt,
wesentlich seine Stellung im Leben."
Die Wirtschaftsordnung, so wird in den Dokumenten des Kreisauer
Kreises betont, müsse dazu dienen, "Menschen zum Menschen zu machen:
wirtschaftliche Unordnung bedroht den Menschen mit Sorge und Not, mit
Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit." Umgekehrt bedrohe "ein Übermaß
der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft" den Menschen, das einer
"Vergewaltigung" der Menschen gleichkomme, "wie etwa am Beispiel der
[stalinistischen] Zwangskollektivierung zu erkennen ist". Weder das
"kapitalistische noch das kommunistische Extrem" seien akzeptabel. Es
müsse eine qualitativ neue "Wirtschaftsgesinnung" geschaffen werden.
Diese Wirtschaftsgesinnug müsse von den Deformationen befreit werden,
die auf die liberalistisch-kapitalistische "Ungebundenheit" und
kommunistische Klassenkampfideologie und Kollektivismus zurückgehe.
Die neue Wirtschaftsgesinnung und -ordnung müsse deshalb aus dem
Begriff der "Freiheit des Menschen" abgeleitet werden. Der Mensch
müsse befreit werden von "Arbeitslosigkeit und Not" und von "der Angst
vor diesen Übeln". Aber "ohne daß ihm die Verantwortlichkeit für sein
Schicksal oder seine persönliche Freiheit genommen wird ... Freiheit
und Pflicht sind komplementäre Begriffe."
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises
beinhalten keinerlei sozialutopische "Konstruktionen" in Sinne einer
Wunsch- oder Forderungsliste. Die Wirtschaftspolitik der Kreisauer ist
sehr nüchtern und "realistisch". Der auf dem christlichen Naturrecht
basierende Begriff des Gemeinwohls und des sozialökonomischen
Fortschritts beinhaltet keinerlei "diesseitigen Heilserwartungen". Es
gelte vielmehr das Potential der Menschen an schöpferischer Vernunft,
das ihnen dadurch gegeben ist, daß sie "Abbild Gottes" sind, zu
entwickeln. "Nur die Fähigkeit, jede Schöpfung Gottes, insbesondere
aber jeden einzelnen Menschen ernst zu nehmen, wird es ermöglichen,
dieser Aufgabe [der Schaffung einer neuen, gerechten und effizienten
Wirtschaftsordnung] gerecht zu werden und dienend an der Gestaltung
mitzuwirken. Hier liegt der Grund, auf dem jede Wirtschaftlenkung
aufbauen muß."
Wirtschaftspolitische Leitsätze
Von diesen Axiomen ausgehend formulierte der Kreisauer Kreis folgende
"Leit- und Grundsätze" zur Wirtschaftspolitik:
Die Wirtschaft dient der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen
Wohlfahrt und Erhöhung des Volkes.
Sinn der Wirtschaft ist die Deckung des echten Bedarfs, Ermöglichung
eines menschenwürdigen Daseins der Bürger und Sicherung der
wirtschaftlichen Existenz des Gesamtvolkes.
Die Wirtschaft ist nicht über oder vor dem Staat. Die Wirtschaft ist
für das Volk da, aber nicht das Volk für die Wirtschaft.
Die Wirtschaft wird vom Staat gelenkt, aber nicht schablonisiert oder
mechansisiert.
Die Wirtschaft des kommenden sozialen Staates wird ein gebundene
Wirtschaft sein. Die Aufgabe des Staates wird sich auf die große
Planung, die Überwachung und die Durchsetzung der allgemeinen
Grundsätze beschränken.
Das Grundprinzip der Wirtschaft ist der geordnete Leistungswettbewerb.
Träger des wirtschaftlichen Gebarens ist der Unternehmer; der Staat
ist grundsätzlich nicht Unternehmer.
Freie Entschlußkraft und Selbstverantwortung des Unternehmers werden
anerkannt.
Soweit der am Markte - unter Mitwirkung eines volkswirtschaftlich
orientierten, aber freien Handelns - auszutragende Leistungswettbewerb
und die darauf fußende Preisbildung zur Wahrnehmung der
volkswirtschaftlichen Interesssen nicht genügt, hat der Staat für die
erforderliche Ergänzung zu sorgen.
Einkünfte, die in ihrer Höhe und ihrer Art dem volkswirtschaftlichen
Ziele nicht dienen, sind grundsätzlich zu bekämpfen. Vordringlich ist
Neubildung von volkswirtschaftlichem Kapital. Soweit Zins und Renten
als Einkommenskategorien diese Aufgabe zweckmäßig lösen helfen, sind
sie - unbeschadet 2.1. [der Aussage des ersten Satzes] - zu billigen.
Die Arbeit muß so gestaltet werden, daß sie die persönliche
Verantwortungsfreudigkeit fördert und micht verkümmern läßt."
Ziel der Volkswirtschaft ist nachaltige Steigerung des realen
Arbeitseinkommens unter Förderung der moralischen und körperlichen
Kräfte des Volkes...
Statt ,Expropriation der Expropriateure' muß das Ziel lauten:
Entproletarisierung des Proletariats.
Aller Besitz ist sozial gebunden, d.h. Verwendung, Art der Verwaltung
und Verwertung aller materiellen Güter werden primär durch die
allgemeinen Anliegen der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz des
Gesamtvolkes und der Garantie des Existenzminimums für alle bestimmt.
Diese soziale Bindung kann in bestimmten, genau zu prüfenden und
vorsichtig abzuwägenden Fällen bis zur Vergesellschaftung führen.
Die Betriebe der öffentlichen Hand sind nach den allgemeinen für die
Wirtschaft geltenenden Grundsätzen zu führen und zu beaufsichtigen.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer bilden in jeden Betrieb zur Förderung der
Betriebe und der kameradschaftlichen Zusammengehörigkeit eine
Arbeitsgemeinschaft.
Die innerbetriebliche Lebens- und Rechtsordnung regelt die Stellung
aller am Unternehmen beteiligten Menschen im Unternehmen. ....Kurz,
auf alle Fragen der innerbetrieblichen Lebensweise hat die Arbeiter-
und Angestelltenschaft grundsätzlich einen rechtlich begründeten
Einfluß.
Die Organe der Arbeiter- und Angestelltenschaft werden in
innnerbetrieblicher Wahl direkt festgestellt.
Die wirtschaftliche und technische Geschäftsführung untersteht zwei
indirekten Kontrollorganen: einmal der allgemeinen
Wirtschaftsüberwachung des Reiches und alsdann den Organen, die für
die Einhaltung der innerbetrieblichen Lebens- und Rechtsordnung
zuständig sind.
Eine dauerhafte Eigentumsbildung muß für alle Schichten des Volkes
möglich sein und darf nicht durch Überbelastung des Einkommens durch
den Staat dauernd gefährdet werden.
Garantie eines Minimaleinkommens für alle Familien, das sich aus Lohn
und allgemeinen Leistungen zusammensetzt...Der verheiratete Arbeiter
genießt rechtliche Garantie eines höheren Existenzminimums, da die
Familie allgemeines Anliegen ist.
Dies alles bedingt neben Durchsetzung der Forderungen ausgleichender
und sozialer Gerechtigkeit die Pflege echten Gemeinschaftsgeistes
(Solidarität), und zwar durch Erhebung in die Ordnung der christlichen
Liebe und Brüderlichkeit, wie das ja schon stark in Rerum novarum
betont wird.
Wenn auch heute - nicht zuletzt infolge der notwendigen Einordnung der
einzelnen Betriebe in die Gesamtwirtschaft von umfassenden Großräumen
- das Gemeinwohl mehr als früher eine staatliche Lenkung der
Wirtschaft erfordert, so sollte doch nach Möglichkeit die freie
Selbstbetätigung und die recht verstandene Selbstverwaltung der
Wirtschaftskörper gewahrt bleiben.
Analog zum politischen Aufbau wird der Aufbau der
wirtschaftspolitischen Selbstverwaltung gegliedert in die unterste
Einheit der Betriebes (Gemeinde), die mittlere Einheit des regionalen
Wirtschaftsbereiches (Kreis), die höhere Einheit des
Wirtschaftgebietes (Land), die höchste Einheit der Volkswirtschaft
(Reich). Auch hier gilt der [Subsidiaritäts-]Grundsatz, alles was
möglich ist, durch die jeweilige untere Einheit erledigen zu lassen.
Alle in der Wirtschaft tätigen Menschen haben gleiche Mindestpflichten
zu erfüllen. Zu diesen Mindestpflichten gehören Ehrlichkeit und
Sauberkeit in der Wirtschaftsführung, Vertrags- und Arbeitstreue im
Rahmen der abgeschlossenen Verträge.
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises laufen
eindeutig auf eine "dirigistische", "soziale" und
wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft hinaus. Geprägt durch die
Grunderfahrung der Weltwirtschaftskrise, deren verheerenden
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen die Nazi-Diktatur
überhaupt erst möglich machten, wird das Wirtschafts- und Sozialmodell
der "freien Marktwirtschaft" klar abgelehnt. Die Zurückweisung der
sozialökonomischen "Ungebundenheit" der Zwischenkriegszeit ist
kategorisch. Dem Staat wird, unter Betonung des
Subsidiaritätsprinzips, eine zentrale wirtschaftspolitische
zugewiesen. Der Staat als Repräsentant des Gemeinschaftsinteresses
kann dem Einzelnen sehr wohl zumuten, "der Gemeinschaft sehr
bedeutende wirtschaftliche Opfer zu bringen (Steuer, Enteignung,
Aufopferung)". Die Art dieser Leistung für die Gemeinschaft müsse
"aber genau geregelt und jeder Willkür entzogen sein". Jedes
"außerordentliche Opfer, daß nur dem Einzelnen zugemutet wird, [darf]
wirtschaftlich nicht unangemessen zu seinen Lasten gehen". Anderseits
müsse "das Lohnproblem, das Problem der Altersversorgung, der
Familienobsorge und das gesamte soziale Problem (Wohnungsbau,
Kinderförderung, Förderung der Ausbildung) nicht von dem Gedanken des
Almosen und des Mitleides, sondern der Gerechtigkeit" angegangen
werden. Daß dirigistische Wirtschaftspolitik des Staates im
diametralen Gegensatz zum System der kommunistischen
Zentralverwaltungswirtschaft steht, ist für den Kreisauer Kreis
selbstverständlich.
Es ist unschwer zu erkennen, daß für die Wirtschaftspolitk des
Kreisauer Kreises folgende ideengeschichtliche Quellen eine besondere
Rolle gespielt haben:
Das Konzept der subsidiaren politisch-administrativen wie
sozialökonomischen Selbstverwaltung geht auf den Freiherrn vom Stein
und die preußischen Reformen zurück.
Die realwirtschaftlich orientierte, dirigistische Wirtschaftspolitik
orientiert sich an Friedrich List.
die Sozialpolitik ist wesentlich von der katholischen Soziallehre, die
zuerst von Papst Leo XIII in der Sozialenzyklika Rerum novarum
formuliert wurde, bestimmt.
Gleichermaßen geht der Begriff der Solidarität auf die Ideen des
"personalen Sozialismus" (ein in den Kreisauer Dokumenten mehrfach
gebrauchter Ausdruck) und die Reformpolitik der demokratischen
Arbeiterbewegung zurück.
Der Kreisauer Kreis sah denn auch in der demokratischen Arbeitbewegung
und den im Christentum verwurzelten politischen und sozialen Kräften
die Katalysatoren und natürlichen Führer des Wiederaufbaus
Deutschlands und Europas: "Die freiheitlich gesonnene deutsche
Arbeitschaft und mit ihr die christlichen Kirchen vertreten und führen
diejenigen Volkskräfte, aus denen heraus der Aufbau in Angriff
genommen werden kann. Sie allein garantieren in diesem Augenblick auf
Grund ihrer fortwirkenden geistigen Überlieferung, daß die Substanz
des deutschen Volkes als Kulturnation gewahrt bleibt und sein
Zusammenhalt als Staatsnation aus seiner gegenwärtigen Gefährdung
gerettet werden kann."
Nur diese Kräfte seien zur notwendigen "Gesamtschau" des
Wirtschaftslebens und der zur Schaffung einer neuen
"Wirtschaftsgesinnung" in der Lage. "Auch auf wirtschaftlichem Gebiet
ist das Heil nicht so sehr von noch so gut organisierten Institutionen
zu erwarten, sondern von der Lebenserneuerung im christlichen Sinne.
Die Erfahrung der ganzen Sozialreform seit nunmehr fast 100 Jahren hat
gelehrt, daß allein von der sozialen Gesetzgebung her der soziale
Friede nicht geschaffen werden konnte, sondern höchstens ein sozialer
Waffenstillstand. Vor allenm gilt, es den rechten Gemeinschaftsgeist
zu pflegen, um den Klassenhaß zu tilgen, die Interessengegensätze
auszugleichen und so die Wurzeln der Klassenkämpfe zu beseitigen.
Darum muß unablässig all das gefördert werden, was der Gemeinschaft
dient, was Gemeinsames hervorhebt und unterstützt, was auf das - so
oft als Ziel genannte - Gemeinwohl nicht nur mittelbar, sondern
unmittelbar hinzielt: über die Familie hinaus auf Nachbarschaft,
Gemeinde in Dorf und Stadt, vor allem auf das Volksganze. Die echten
Werte des Volkes, der Nation müssen auch von unserer Seite anerkannt
und gepflegt werden. Wir können dies Dinge nicht ignorieren und immer
noch allein mit den Begriffen Staat und Gesellschaft arbeiten."
Die Wirtschaftspolitik der "Europäischen Konkordanz"
Parallel zur den außenpolitischen Plänen zur Schaffung einer
europäischen Friedensordnung, entwickelte der Kreisauer Kreis
programmatische Vorstellungen für einen europäischen Wirtschaftsraum.
"Der kommende Friede kann nur dauerhaft sein, wenn die Wirtschaft den
politischen Bedürnissen gemäß richtig geordnet wird." Dieses
"politische Bedürfnis" beruhe darauf, daß es ohne Schaffung einer
neuen Wirtschaftsordnung "keine Stabilität der gesellschaftlichen
Verhältnisse innerhalb der Staaten, keinen Frieden zwischen den
Staaten [geben werde]. Daher kann der Staat die Wirtschaft nicht
alleine nach einer Lösung suchen lassen." Daraus ergebe sich folgende
Aufgabenstellung: "Dem Ziele nach ist Europoa als wirtschaftliche
Einheit zu betrachten. Das Ziel muß ohne Einheitsschema angestrebt
werden. Hemmende Zollschranken sind allmählich abzubauen. Schon in
Hinblick auf die ernste Bedrohung durch die ostasiatische Konkurrenz
ist enge wirtschaftliche Fühlungnahme Englands und Rußlands mit dem
europäischen Großraum erwünscht."
Diese Aussage ist auch dahingehend bemerkenswert, daß der "europäische
[Wirtschafts-] Großraum" eindeutig als kontinentaleuropäischer
Wirtschaftsraum definiert wird. Dies ist deshalb wichtig, weil
zweifelsohne im Kreisauer Kreis, besonders bei Peter York von
Wartenburg und auch Helmuth James von Moltke, Illusionen über die
geopolitischen Ziele der Führung Großbritanniens gegenüber Deutschland
bestanden. Man machte sich falsche Hoffnungen darüber, daß die
britische Führung am Erfolg des deutschen Widerstandes interessiert
wäre. Sie war es ausdrücklich nicht. Im Gegenteil, wie wir heute
wissen, begrüßte der führende Deutschlandexperte des britischen
Geheimdienstes, John Wheeler-Bennett ausdrücklich das Scheitern des
Aufstandversuches vom 20. Juli 1944. Mehr noch, Wheeler-Bennett
äußerte seine Befriedigung darüber, daß die Nazis nach dem
gescheiterten Attentat mit den Verschwörerkreisen wichtigste Teile der
deutschen Elite beseitigt hätten. Denn, so Wheeler-Bennett, diese
Elite wäre nach dem Kriege zu einem unangenehmen Problem für die
Umsetzung der britischen Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland und
Europa geworden. Die Vorstellung einer "europäischen Konkordanz", in
der Deutschland eine starke, gleichberechtigte und konstruktive Rolle
gespielt hätte, stand in diametralem Gegensatz zu den Zielen
britischer Geopolitik.
Auch bezüglich der angestrebten Wirtschaftspolitik für ein
zusammenwachsendes Europa wurden vom Kreisauer Kreis Leitlinien
entwickelt:
Die europäischen Länder müssen sich zu einer Arbeitsteilung
zusammenfinden, welche ein gleichmäßige Entwicklung der produktiven
Kräfte gewährleistet. Auf diese Weise kann die Not der Nachkriegszeit
durch eine intensive Aufbauarbeit überwunden werden.
Die europäische Wirtschaft muß von den überkommenen
nationalstaatlichen Beschränkungen befreit werden. Ihr Grundprinzip
ist der geordnete Leistungswettwerb, der sich unter Aufsicht einer
europäischen Wirtschaftsführung vollzieht.
Weitere Aufgaben dieser europäischen Wirtschaftsführung bestehen
darin, durch Lenkung der Schwerindustrie, Beaufsichtigung der
europäischen Kartelle und andere mittelbare Maßnahmen, inbesondere der
Steuer-, Kredit-, und Verkehrspolitik das Zusammenwachsen der
einzelnen Volkswirtschaften Europas zu einer organischen und
gegliederten Einheit herbeizuführen.
Bei der äußerst wichtigen Neuordung der Währungen und Stabilisierung
neuer Kaufkraftparitäten kann in Hinblick auf die weltwirtschaftliche
Verflechtung das Gold nicht ganz ausgeschaltet werden.
Im Interesse eines nutzbringenden Zusammenarbeitens der
Volkswirtschaften und eines reibungslosen Ineinandergreifens aller
volks- und weltwirtschaftlichen Kräfte sind alte und neue politische
Schulden zu streichen; die verhängnissvolle Wirkung der Reparationen
nach dem ersten Weltkrieg darf nicht vergessen werden.
Über die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums hinaus, strebte
der Kreisauer Kreis die Herausbildung einer neuen
Weltwirtschaftsordung an. Vor allem Adam von Trott zu Solz verfügte
durch ausgedehnte Reisen über profunde politische und wirtschaftliche
Kenntnisse der Vereinigten Staaten und des asiatischen Raumes. Er
hatte sich - wie auch Dietrich Bonhoeffer - viele Monate in den USA
aufgehalten. Ähnlich lange hatte sich Trott zu Solz auch in China und
Japan aufgehalten. So konnte der Kreisauer Kreis die ernome
wirtschaftliche Entwicklungsdynamik des asiatisch-pazifischen Raumes
voraussehen. Durch die neue Weltwirtschaftsordnung müsse "allen der
Zugang zu den Gütern der Welt offenstehen". Daß damit nicht
internationaler "Freihandel" gefordert wird, ergibt sich aus der
Feststellung, daß die "Wiederherstellung der internationalen
wirtschaftlichen Ungebundenheit der Vorkriegszeit" völlig inakzeptabel
sei. Die zu schaffende wirtschaftliche Ordnung Europas sei "die
Vorausetzung für eine wirtschaftliche Friedensordnung der Welt, in die
sich Europa durch Beteiligung am Welthandel eingliedert... Die
volkswirtschaftlichen Aufgaben können umso besser gelöst werden, je
schneller die Eingliederung der Volkswirtschaften in die
neuzugestaltende Weltwirtschaft erfolgt."
Wie für die nationale Volkswirtschaft, so sei auch für die europäische
und weltwirtschaftliche Ebene eine "Gesamtschau" und ein neue
"Wirtschaftsgesinnung" unabdingbar. "Der heutigen Volks- und
Weltwirtschaft fehlt vorläufig das ihr gemäße Bild des wirtschaftenden
Menschen; anstelle diese Bildes stehen die Zerrbilder der Masse, des
Kapitalisten; seine wirtschaftliche Aufgabe ist dem einzelnen Menschen
häufig unklar, sinnlos, wechselnd, bedroht. Die Frage der
Wirtschaftsgestaltung ist vordringlich, wenn nicht alle Ordnung in
Frage gestellt werden soll, und die richtige Lösung muß wieder dahin
führen, daß ein der modernen Wirtschaft entsprechendes Bild des
Menschen in seinen wirtschaftlichen Aufgaben entsteht."